Sie schlugen sich durch die Geschichte

oder: Das Fähnlein der 22 Aufrechten

 

Eine Anmerkung für historisch nicht ganz so Informierte:

Fähnlein nennt man im Söldnerheer des 16. / 17. Jhs. in Deutschland und in der Schweiz ein Truppenteil von 300 bis 600 Mann Fußvolk oder 250 Reitern; Gottfried Keller hat im vorigen Jahrhundert eine Novelle mit dem Titel "Das Fähnlein der sieben Aufrechten" geschrieben, die einmal zum festen Bestand des gymnasialen Deutschunterrichts gehörte.

 

Es war einmal, so fangen alle guten Geschichten an, eine Gruppe von 22 Abenteuerlustigen weiblichen und (in der Mehrzahl) männlichen Geschlechtes, die fanden sich eines Tages nach den Sommerferien zusammen, weil sie wissen wollten, woher sie kommen und warum sie so wurden, wie sie sind, und ob man nicht aus der Geschichte für die Gegenwart lernen könnte. Und deshalb hatten sie beschlossen, sich mit Geschichte zu befassen, denn das schien ihnen durchaus lohnenswert.

Und so saßen sie denn in Raum W 81 im Westflügel und warteten auf den Menschen, der nicht nur versprochen hatte, sie für die nächsten zwei Jahre durch Höhen und Tiefen der (deutschen) Historie zu geleiten, sondern der sie auch als Tutor bei der Hand nehmen und durch die zahlreichen Verästelungen und Wirrnisse des Oberstufensystems (möglichst) geradewegs zum Abitur führen wollte. Noch saßen sie etwas ungläubig da und hörten auf die Worte des da vorne Stehenden, der von den zu bestehenden Abenteuern der nächsten zwei Jahre sprach und von dem großen Ziel allen Strebens, dieser geheimnisumwitterten Prüfung, die - anders als bei der sagenhaften Suche nach dem heiligen Gral - nicht nur einer, sondern alle von ihnen bestehen sollten: nämlich das "Abitur". Noch mochten sie gar nicht glauben, daß es einmal wahr werden würde, daß es ihnen gelingen könnte, alle Abenteuer erfolgreich zu bestehen. Aber im Laufe der Zeit wurde aus den sich zunächst fremden Einzelkämpfern ein "Fähnlein von 22 Aufrechten", die sich wacker durch mehr als 600 Jahre deutsche (und europäische) Geschichte schlugen, Texte über Texte erarbeiteten, sie in Kontexte oder Zusammenhänge stellten, aufgrund von Hintergrundkenntnissen beleuchteten, diskutierten und kritisch Stellung bezogen. Und immer stärker wurde das Gefühl der Zusammengehörigkeit, als sie die Renaissance und die Wende um 1500 samt Bauernkrieg und Reformation hinter sich gelassen hatten, kurzfristig unterbrochen von Aufenthalten in den dunklen, aktengefüllten Gewölben des Marburger Staatsarchivs, um dort etwas über die finsteren Ursprünge der Lahntalschule auszugraben oder sich aber z. B. kundig zu machen über die Kirmes- und Saufordnungen Philipp des Großmütigen und die Geschichte des Bierbrauens in Marburg.

Noch war keiner vom rechten Wege abgekommen, gingen alle dicht hintereinander her, im breiten Windschatten dessen, der voranmarschierte und immer wieder sagte, daß dies der richtige Weg sei. Und so schlugen sie sich durch die Geschichte, überstanden gemeinsam die Herausbildung des landesherrlichen Territorialstaates, entdeckten in England das Naturrecht und die daraus abgeleiteten Staatsauffassungen eines Hobbes, Locke und Montesquieu, brachten den Absolutismus zu Fall und durchlebten die Französische Revolution mit der bitteren Erkenntnis, daß "Gleichheit für alle" nicht unbedingt "Gleichheit für alle in allem" bedeutet. Immer wieder hielten sie auf ihrem dornigen Wege inne und stellten die bange Frage: "Was soll uns das alles sagen?" Aber sie waren ’s zufrieden, wenn der vorne sagte: "Glaubt mir, das hat was zu bedeuten!"

Die größte Herausforderung stand aber allen noch bevor. Und weil dies Abenteuer nur in südlicher Sonne zu bewältigen und so gewaltig war, daß auch ein Fähnlein von (nunmehr 19) Aufrechten es nicht allein bestehen konnte, holten sie sich die Hilfe von Getreuen, die vertraut waren mit den Fährnissen gegenwärtigen Lebens und Wasser von Wein und Bier (auf wissenschaftliche Weise) zu scheiden wußten. Und sie häuften gewaltige Mengen an von Vorräten in jeglicher stofflichen Form, die sie mitzunehmen gedachten, um allen Gefahren des fremden Landes aufs vortrefflichste begegnen zu können. Wacker schlugen sie sich zu Lande und auf See, und so manches Gesicht war gezeichnet von schweren Kämpfen!

Nur kurz währte der Zug der deutschen Recken in südliche Gefilde; erinnerungsschwer kehrten sie zurück auf den Weg der Prüfungen, den sie bisher schon ein Jahr lang erfolgreich beschritten hatten.

Und immer wieder setzten sie sich zusammen und klärten ihre Gedanken in gemeinschaftlichem Schreiben - doch ein "jeder für sich und keiner für alle", zweimal in einem halben Jahr für mehrere Wochen und bis zu dreimal in sieben Tagen, bis sie derart (ab)gehärtet schienen, die letzte - gewaltigste - Prüfung zu bestehen. Was das 19. Jahrhundert an Abenteuern zu bieten hatte - Liberalismus, Nationalismus, Imperialismus - es wurde gemeistert! Und wenn der vorne einmal vom Wege ab-zukommen drohte oder nicht mehr vorne gehen wollte, so fanden sich im "Fähnlein der Aufrechten" immer häufiger welche, die eigene Vorstellungen vom Weg entwickelten und voraus- und seitwärtspreschten. Und die Antwort auf die Frage nach dem "Warum" und dem "Sinn der Geschichte" erforderte mehr als nur ein "Glaubt mir, das hat was zu bedeuten."

Und das war gut so! Das Ziel ist erreicht!

Nun ziehen sie allein hinaus in die Welt, die sich zwei Jahre lang zum Abitur hin plagten; das "Fähnlein der 22 Aufrechten" gibt es nicht mehr. Ein jeder muß sich den Weg durch die (eigene) Geschichte schlagen und die höchsteigenen Abenteuer bestehen. Der vorne eine Zeitlang (mit)ging und die Führung übernahm, tritt beiseite, zugegebenermaßen etwas traurig und ziemlich gerührt. Und er läßt jeden einzelnen seines "Fähnleins" noch einmal in der Erinnerung Revue passieren. Ach ja, was gäbe es da nicht alles von den 22 zu erzählen ...

Doch das ist eine andere Geschichte, wert, in 5 oder 10 oder mehr Jahren (entsprechend den jeweiligen Jubiläen des Abiturs) erzählt zu werden!

Claus Böcker

 

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