Das große Trichtern zu Biedenkopf an der Lahn
Das Ritual:
Wir schreiben das Jahr 1995. In Hessen und insbesondere im oberen Lahntal toben gnadenlose Bildungskämpfe. Unterdrückte, Entrückte und an Wissen Verarmte ziehen durch die Dörfer und Weiler und rufen: "Gebt uns eine Chance!" (Nur ein Teil der um Bildung Ringenden merkt später, daß es dabei nicht um eine Möglichkeit zum Skispringen gehen sollte).
Im fernen Wiesbaden hatte Hartmut - der mit dem Holzapfel - mal wieder einen Plan und überzog das Land mit Botschaften, wie der Bildungshunger zu stillen sei. Ruhe sollte an den Bildungsfronten einkehren. In jedem größeren Weiler richtete er Bildungsgüter und Förderhöfe ein und ließ dort unter Aufsicht erfahrener weiser Frauen und Männer jährliche Sichtungsschauen durchführen. Ein Jahr lang wurden die Bildungshungrigen mit Dingen aus der Welt der schwierigen Sprachen, Fauna und Flora und magischer Zahlen und Formeln sowie höfischer Geschichte gefüttert. Ob davon ausreichend an den Bildungshungrigen hängen blieb, fand man durch das berüchtigte "Trichtern" heraus. Dazu baute man an den Ufern der Lahn einen riesigen grobschlächtigen Trichter auf. In diesen mußten sich die mit Bildung Gefütterten hineinstürzen. Diejenigen, bei denen die Bildungskost nicht angesetzt hatte, fielen erwartungsgemäß durch den Trichter. Ihnen wurde der Rat gegeben, sich von dannen zu trollen.
Dem Ritual wohnten gewöhnlich diejenigen bei, die ein Jahr im Namen von Obervasall Jürgen die Bildungsmast übernommen hatten. Mit Spannung erwarteten sie, wen denn der Trichter zurückbehalten und beim Umkippen vor ihnen ausbreiten werde. Beim Blick auf die Getrichterten nickte die Runde der Weisen in der Regel wohlwollend und anerkennend. Zuweilen aber löste der Anblick einiger Wesen, die aus dem Trichter purzelten, ein gar fürchterliches Stöhnen und Fluchen aus und umgehend wurden Vorschläge gemacht, wie stark denn der Trichter für das nächste Jahr erweitert werden solle.
Am Ende des Rituals sprach Obervasall Jürgen zu den Getrichterten: "Sehet, ich habe Euch weise Frauen und Männer verschiedener Wissensgebiete ausgesucht. Schauet sie Euch an, sammelt Euch um sie und bildet Läuterungs-Kurse (LK’s). Suchet dann für zwei Jahre mit dem weisen Manne oder der weisen Frau das Weite, auf daß Ihr euch dann in 1997 bei mir meldet zur Prüfung Eurer sittlichen Reife." Die Getrichterten schauten in die Runde der weisen Frauen und Männer, bildeten mehr oder minder spontan Ansammlungen um dieselben und taten, wie Jürgen ihnen aufgetragen hatte.
Zuweilen passierte es, daß Zögerliche einfach von Umherlaufenden mitgerissen wurden und so in Läuterungskursen endeten, für die sie eigentlich nicht geschaffen waren.
Die Akteure:
Einundzwanzig Getrichterte liefen auf ein 1,91 Klafter großes Wesen zu, das mit einem Lächeln auf den umhaarten Lippen liebevoll die Arme ausbreitete und zu ihnen sprach: "Bleibet zwei Jahre bei mir; ergötzat euch an dem Neuesten aus der Welt der Neurone, Gene, Hormone, Pheromone... und vor allen Dingen lernet, meine Tests zu ertragen."
Die Worte waren kaum gesprochen; das Knochenklappern vorbei, da bildeten sich erste Selbsthilfe-gruppen.
Johanna, die Aufrechte und Jan, der im Familienwappen das Schüppchen und den Handfeger führte, organisierten sich spontan. Jan sprach ab da das aus, was Johanna wußte.
Die längste der Gruppen wurde von Nicolai gebildet. Für die einen war es Nicolai, der Schroffe, für die anderen war es die längste Sprechstange der Welt, mit dem Hang, in den Pausen Doktorspielchen zu betreiben. Er führte im Wappen das Lose Mundwerk.
Eine der Selbsthilfegruppe soll sich "AS" (Anonyme Sekretärinnen oder hieß es Anonyme Schweigerinnen (Corinna / Andrea)) genannt haben. Sie führten im Wappen den glühenden Kuli. Und dann gab es da noch diejenigen, die sich wechselweise als Trendsetter oder Wiedergeburt einer supernetten boy-group namens "five netties" wähnten (Thomas, David, Uwe, Michael und Tobias). Tobias war darüber hinaus noch bekannt als die Reinkarnation von Gärtner Pötschke aus den Marburger Landen. So kam es, daß sich diese Gruppe in ihre Wappenfahne fünf lächelnde Münder und eine grinsende Mohrrübe einsticken ließ.
Selbsthilfegruppen wurden auch unter dem Gesichtspunkt der Geschlechtsspezifität gebildet. Wer wird sich nicht an Ljublinka und Melanie erinnern, von denen die eine immer das erste und die andere immer das letzte Wort hatte. Diese Selbsthilfegruppe führte im Wappen den erhobenen Zeigefinger.
Aber auch die Knappen des Kurses organisierten sich und fanden Befriedigung in geschlechts-bestimmten Gruppen. Christoph gründete die Gruppe "Faun und die Fraun" und erfreute Teile der Gruppe wöchentlich mit seinen Anekdötchen zu Unfällen und Umfällen. Diese Gruppe führte in der Wappenfahne Frauennamen, Frauennamen, Frauennamen und an der Fahnenstange gab es Kerben, die als so eine Art Strichliste gedeutet wurden.
Einige widerstanden der Verlockung, sich in Selbsthilfegruppen zu organisieren... Da gab es den einsamen Sammler und Jäger mit der Lizenz zum Töten (Jochen) oder Frauke, die auf alles eine Frage hatte und dann das blonde "Gift" Angela, die selbst die romantischsten Momente an den Gestaden eines Sees mit der schnöden Aussage: "Ich glaube der See gefriert" eiskalt zerstören konnte.
Die kleinste der kleinen Selbsthilfegruppen aber gab sich den Namen "Klein und gemein und am liebsten daheim". Sie bestand aus dem Entdecker des "Björn", der kleinsten Einheit für verbalen Giftmüll. Dieses Selbsthilfegrüppchen führte im Wappenfähnchen, das die Größe eines Tempos hatte, einen Mikrochip, aus dessen Schaltbahnen giftige Dämpfe aufstiegen.
Während sich einer im Läuterungskurs also um den verbalen Giftmüll kümmerte, entschloß sich ein immer etwas verwirrt und vergeßlich wirkender Jüngling diesen Worten Taten folgen zu lassen. Nils, der Entrückte, machte sich wie immer selbständig und betrieb eine private Untertischdeponie. Eine Wappenfahne wurde bei dieser Einzelgruppe nie gesehen. Entweder wurde sie immer wieder vergessen oder aber sie wurde nie fertiggestellt oder vielleicht hatte er sie auch unter dem Tisch deponiert und vergessen, wo sie war.
Stets mit dem Namen Felix verbunden bleiben sicherlich auch zwei Glücksmomente:
Im Wappen dieser Gruppe fand sich eine tiefschwarze Kaffebohne mit wallendem Naturhaar.
Weitere Glücksmomente wurden der Gruppe beschert, wenn ein Bursche aus dem Weiler Wallau zu spontanem Redeschwall ansetzte und der Gruppe klarmachen wollte, daß es eigentlich nur einen Schäf ...äh... retorücker geben könne. Diese Gruppe brauchte keine Wappenfahne, sie hatte, wenn im Weiler Wallau die Kirmes tobte, eine eigene.
Immer eng an seiner Seite fand man Rene, den Söldner. Der wäre zwar in seinem ersten Leben doch lieber ein kurzhaariger Zinnsoldat geworden, fand dann aber seine Erfüllung darin, mit dem Arm ein Aktionspotential nachmachen zu können. Diese Gruppe lehnte das Tragen einer Fahne ab, weil sie mit der einen Hand ja schon das Aktionspotential nachmachen müsse und die andere Hand für die Waffe brauche.
Unter den Frauengestalten der Gruppe fand sich zu Beginn auch die löwenmähnige Diana. Unvergeßlich ihre Selbstversuche zur chromatographischen Trennung von Farbstoffen mittels ihrer Haare. Leider zog sie sich vorzeitig zurück. -Schade-, ihre Bereitschaft, Selbstversuche zu machen, hätte uns in Zeiten des Klonens so manches geben können.
In der Hütte des Bärtigen:
In regelmäßigen Abständen trafen sich die Getrichterten in der Hütte des großen Bärtigen. Beim Betreten der Hütte, deren Boden mit warmen Wasser durchspült wurde, war es Tradition, die Schuhe abzulegen. Einige taten dies auch mit ihrer Zurückhaltung.
Zu der Zeit aber waren noch nicht in allen Weilern des Hinterlandes die Grundsätze der Volkshygiene bekannt. So geschah es einmal, daß man doch sehr sinnhafte nasale Eindrücke und Einblicke in die Hausrezepte des Käsemachens gewinnen konnte.
Zu den Sitten der Treffen gehörte es, daß die Weiblichkeit Platz für die Männer machen mußte... und den Herd zu räumen hatte. Zwar fiel es manchen Knappen naturgemäß etwas schwer, nicht nur das große Wort sondern auch mal den Kochlöffel zu führen. Aber letztlich konnte sich doch sehen lassen, was manchmal fast die Tafelrunde und auch die Mägen zum Brechen brachte.
Die Burschen versuchten sich im Nachkochen der Gerichte aus fremden Ländern. Für die einen war es dann chili con carne, für die anderen lediglich ein Blähbeschleuniger. Nur bei dem Versuch, ein Kartoffelgratin zu machen, hätte man sich doch gewünscht, daß die Köche Einvernehmen darüber erzielen, ob es denn nun Kartoffelgratin oder Kartoffelsuppe geben solle. Auch der spontane Anruf bei der Telefonnummer des Maggi-Kochstudios (auf jeder Packung zu finden) brachte wenig. Für die einen war es dann halt Gratin - für die anderen einfach nur Zottenpaste.
Allen Treffen war gemeinsam, daß nicht nur die Trinkgefäße, sondern auch die Gedanken darum kreisten, was denn die zentralen Fragen des Lebens seien.
Unvergeßlich der Versuch des Kirmesburschen aus dem Weiler Wallau, eine mehrstufige Fragerunde zu seinem zentralem Thema "Was ist männlich?" zu organisieren. Spontane Antworten wie: Baumarkt, Kettensäge, Spalthammer oder Rippenshirt und Unterhose mit Eingriff überzeugten nur den Fragesteller oder kamen von ihm.
Für andere wiederum war die Frage zentral "Wieso lande ich mit Autos, die wo wie auf Schienen fahren, mitten auf´m Feld?"
Über das Stadium der schienengebundenen Fahrzeuge weit hinaus war der Knappe Felix. Unvergessen seine fast galaktische - weil alles berührende - Frage:
"Wieso kann ich auf der Geraden beim Weiler Kombach mit dem Fahren anfangen und es ist hell und wenn ich dann im Weiler Eckelshausen bin, ist es dann auf einmal dunkel?" Einige ahnten schon damals, daß es später Grundlage für Drehbücher zur Serie Akte X - die unheimlichen Fälle des Felix Berichtet Irrationales war.
Eine der zentralen männlichen Fragen des Lebens (Wie nähere ich mich rhetorisch, charmant und erfolgreich einer Frau?) beantwortete sich der Bursche aus dem Weiler Wallau doch lieber gleich selbst. Lasziv am Kachelofen lehnend, drei Promille im Kopp von Knopp und die Weinflasche in der Hand sprach er den gnadenlosen Satz: "...da sitzt ´se ...ist schwanger ...und schämt sich, weil so besoffen bin".
Die Tischsitten ließen manchmal mehr als das Essen zu wünschen übrig. So wußte man, wenn Jan die Frage stellte: "Will jemand das Essen, oder kann ich...?", daß es eigentlich eine seiner schon beantworteten Fragen war und es nur noch darum gehen konnte, seinen Handrücken vor Jans Gabel zu retten. Auch die Einführung des Gemeinschaftstellers war sicherlich revolutionär, aber nicht immer appetitlich.
Die Treffen in der Hütte des Bärtigen endeten fast immer friedlich-entspannt und fast immer vor dem Morgengrauen. Nur einmal hatte einer der Knappen ein Problem. Während alle anderen Mitglieder der Tafelrunde zu den zentralen Fragen des Lebens nach erfolgter Klärung erst ihre Schuhe und dann den Heimweg fanden, argwöhnte Knappe Björn, man habe seine Lieblings-Edelmarken-Schuhen geschändet oder selbige seien fremdgegangen. Seine Weigerung, schuhlos die Runde verlassen zu sollen, wurde vom Bärtigen nicht allzu ernst genommen. Mit wissendem Lächeln befahl er den zu diesem Zeitpunkt strammsten Jungs unverzüglich, das Problem in die Hand und Björn auf den Arm zu nehmen und sich von dannen zu trollen. Die Töne, die der Davongetragene daraufhin abgab, sollen Vorlage für die Geschichte vom keifenden Rumpelstilzchen geworden sein.
Bei manchen der besinnlichen Abende zur Klärung der zentralen Fragen des Lebens hätte man zuweilen den Eindruck gewinnen können, man befände sich in den Hinterstübchen einer britischen Zockerfiliale. Der blonde Bärtige, dessen Vorfahren eigentlich aus dem Schwedischen kamen, mußte irgendwie auch britisches Wettblut in seinen Adern oder die neue Variante von BSE (Bärtige Spekulieren Ewig) haben. So wurden an manchen Abenden gar sagenumwobene Wetten geboren. Zu den bemerkenswerten Wetten zählt sicherlich die, bei der es darum ging, ob der Entdecker des "Björn" - der auf dem Weg zum ersten kubischen Mikrochip war - innerhalb einer bestimmten Zeit seine Kilobits runterkriegen könne oder ob es eine Fe(s)ttplatte würde.
In Art vertrauter Kumpel nahm der Bärtige den Mikrochip unter seine Fittiche und stellte ihn auf eine Waage und sprach: "Sehe, da ist einiges zuviel drauf. Wenn das, was zuviel ist, runterkommt bis zum Tag, an dem Tannenbäumchen angesteckt werden, wirst du eine unvergeßliche Nacht in einem Wirtshause mit allem Drum und Dran erleben."
So war es dann auch geschehen... aber das soll euch der Knappe selbst erzählen.
Das letzte Ritual:
Nach zwei Jahren des Eintrichterns und des sanften Drucks wähnten sich die vom Bärtigen Unterwiesenen bereit, vor den Obervasall Jürgen treten zu können, um Zeugnis ihrer Reife abzugeben. Unterwegs gingen noch zwei verlustig, aber der Rest würde es schon schaffen, dachte der Bärtige bei sich. Er drückte ihnen die Daumen und nicht die Punkte, denn er hatte sie lieb gewonnen. (Spätere Chronisten werden berichten...)
...was Persönliches vom Chronisten:
Ich wünsche Euch allen von ganzem Herzen, daß sich Euer Leben annähernd so gestaltet, wie Ihr es Euch erhofft. Ihr wart ein absolut netter Haufen - es hat Spaß gemacht, mit Euch durch alle ups and downs zu gehen. Hoffentlich habt Ihr mir meine Macken verziehen - ich versuchte es mit den Euren - und fast immer ist es mir gelungen.
...und was würde mich freuen?
Wir sehen uns in zwei Jahren wieder (also ...wenn Schalke Meister wird) ...erzählen uns was von... (mein Haus, mein Boot, meine Kinder, mein Pferd ...mein pool) ...Ihr organisiert die Kiste ...Ich stell die Hütte ...und dann schwärmen wir von den jetzigen Zeiten ...und ich prophezeie Euch, es war mit das Beste in Eurem bisherigen Leben.
Macht´s gut - Ihr lieben Schweinebacken - Ihr netten Säcke und Säckinnen - und vergeßt nicht:
Ihr seid unsere Zukunft (und meine Rente) und kümmert Euch in Eurem Leben nicht nur um die eigene Nase!
Tschüß - ich werde Euch vermissen (ehrlich) ß Anmerkung der Redaktion: Wer´s glaubt wird seelig
Euer Rolf Götza